Hier habe ich einige interessante, kuriose oder überraschende Urteile zusammengestellt.

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LSG Hessen (L 1 KR 65/20 vom 05.08.2021): Behinderungsausgleich ist nicht auf Basisausgleich beschränkt

 Ein querschnittsgelähmter Versicherter kann gegen seine Krankenkasse einen Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike (= elektrische Rollstuhlzughilfe mit Handkurbelunterstützung, die an den Faltrollstuhl angekoppelt werden kann) haben, so das Landessozialgericht Hessen (L 1 KR 65/20 vom 05.08.2021). Entscheidend sei, ob das Hilfsmittel erforderlich ist, um die Behinderung auszugleichen. Dies sei der Fall, wenn der Versicherte ein Handbike selbstständig ohne fremde Hilfe nutzen könnte, wegen fehlender Kraft in den Händen bei einem Elektrorollstuhl aber auf fremde Hilfe angewiesen wäre.

 

Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Ausgleich einer Behinderung sei zu gewähren, wenn damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen sei. In Bezug auf die Mobilität sei allein die Erschließung des Nahbereichs um die Wohnung eines Versicherten als Grundbedürfnis anerkannt.

 

Die Prüfung des Grundbedürfnisses der Erschließung des Nahbereichs dürfe unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V) nicht zu eng gefasst werden. Dazu zählen insbesondere ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen, das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot und das Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 der UN-Behindertenrechtskonvention.


LSG Nordrhein-Westfalen, (L 9 SO 271/19 vom 17.05.2021): Petö-Blocktherapie ist eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (soziale Teilhabe).

 Eine geistig und körperlich wesentliche behinderte Schülern kann von dem Eingliederungshilfeträger die Kostenerstattung für von ihr gezahlte Petö-Therapie verlangen. Es handelt sich nicht um eine Lei-stung der medizinischen Rehabilitation, die mangels Anerkennung als Heilmittel i. S. d. § 138 SGB V nicht als Leistung der Eingliederungshilfe erbracht werden könnte. Für eine Förderung der sozialen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei der kognitive Bereich besonders bedeutsam. Die Petö-Therapie verfolge einen ganzheitlichen heilpädagogischen Ansatz.

 


 LSG Baden-Württemberg L 6 SB 3843/19 vom 18.03.2021): Für das Merkzeichen "aG" ist nur das Gehvermögen in fremder Umgebung ausschlaggebend.

 Der geistig und körperlich behinderte Kläger konnte sein motorisches Potenzial nur in vertrauter Umgebung ausschöpfen, außerhalb derer war nicht nur eine physische Anwesenheit, sondern eine praktische Unterstützung bereits bei Entfernungen über wenige Meter erforderlich. Er war in fremden Situationen regelhaft verunsichert. "Nach Ansicht des Senats sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" nach dessen Sinn und Zweck des behinderungsbedingten Mobilitätsausgleichs und der damit verbundenen Integration schwerbehinderter Menschen in die Gesellschaft auszulegen. Im Hinblick auf dessen nachteilsausgleichende Wirkung durch die Nutzbarkeit von Behindertenparkplätzen und damit der Verkürzung der Gehstrecke … ist es insofern allein maßgeblich, in welchem Ausmaß das Gehvermögen bei diesen Verrichtungen eingeschränkt ist. Der streitige Nachteilsausgleich mit der einhergehenden Vergünstigung des Parkens ist schon von seinem Verständnis her auf eine fremde Umgebung ausgerichtet. Ob das Gehvermögen in einer bekannten Umgebung nicht so eingeschränkt ist, ist unerheblich. Allein unter diesen Gesichtspunkten ist auch das Tatbestandsmerkmal "dauernd" zu bestimmen."



LSG Hessen, S 4 SO 281/18 B ER vom 09.12.2021: Die Kosten für einen (Haus)Gebärdesprachkurs werden von der Eingliederungshilfe (§ 113 SGB IX) umfasst.

 In einem Eilverfahren erstritt die 4jährige Antragstellerin, die an einer Sprachentwicklungsstörung leidet, die Kostenübernahme für einen Hausgebärdesprachkurs im Wege der sozialen Teilhabe, § 113 SGB IX. Sie leidet unter einer Sprachentwicklungsstörung i.S. einer verbalen Entwicklungsdyspraxie (Entwicklungsstörung des kindlichen Sprechens - mangelhafte Aussprache -). Das Wortverständnis ist normal entwickelt, das Sprechvermögen entspricht dem Entwicklungsstand einer 2,5 jährigen. Im Alltag entstanden erhebliche Probleme, da sie sich nicht verstanden fühlte. Zeitweise reagierte sie sehr aggressiv, bei unbekannten Personen entfernte sie sich. Im Kindergarten hatte sie keine Freunde, lehnte andere kommunikationsunterstützende Technik teilweise komplett ab, was an ihrer Intelligenz lag. Das LSG Hessen wertete die Gesamtsituation als erhebliche Gefährdung des Kindeswohls (grundlegende Entwicklungsverzögerungen bezüglich der erheblichen sprach- und kommunikationsbedingten Barrieren). Der Spracherwerb sei zur sozialen Integration dringend notwendig. Das LSG verwies auch auf Art. 24 UN-Behindertenrechtskonvention: eine volle und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Kontakte zu nicht behinderten Menschen nicht nur zu vertrauten Menschen) und eine zukünftige Teilhabe an Bildung könne sie nur erlangen durch den Erwerb von lebenspraktischen Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen.

 

SG Dresden, S 45 KR 575/21 vom 19.01.2022: Kein Ruhen des Krankengelds bei angeblich verspäteter Krankmeldung

Wenn der Bezug von Krankengeld ruht, kann das mehrere Gründe haben: Der häufigste Grund ist der verspätete Eingang der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der KK. § 49 Abs. 5 SGB V: "Der Anspruch auf Krankengeld ruht, … solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit …  erfolgt,"…

 Der Gesetzgeber wollte die Pflicht zur Übermittlung eines Attest ab 01.01.2021 dem behandelnden Arzt aufbürden. Die fehlende Meldung der AU sollte kein Ruhen des KrG-Anspruchs mehr bewirken, wenn die Übermittlung im elektronischen Verfahren erfolgt oder erfolgen müsste. Die vorgeschriebene AU-Meldung stellte bis 2020 allein eine Obliegenheit der Versicherten dar. Ab 2021 wurde die AU-Meldung an die KK in Papierform durch ein einheitliches und verbindliches elektronisches Übermittlungsverfahren abgelöst. Die Regelung erfolgte jedoch überhastet, da die technische Infrastruktur nicht fristgerecht zur Verfügung stand. Nach einer "Vereinbarung“ zwischen KBV und BMG sollen – entgegen der gesetzlichen Regelung – elektronische AU-Bescheinigungen (eAU) erst ab 01.01.2022 verpflichtend sein. Dem hat das SG Dresden aber widersprochen: Vereinbarungen zwischen KKen und KBV gehen nicht zu Lasten der Versicherten. Ein weiteres Hinauszögern sei vom Gesetz eindeutig nicht erwähnt. Freuen über dieses Urteil kann sich jetzt eine Versicherte, die gegen ihre KK auf Zahlung des Krankengelds geklagt hatte. Die KK hatte die Zahlung mit dem Argument der verspäteten Meldung abgelehnt. Das Urteil ist allerdings nicht rechtskräftig, die Sprungrevision zum BSG ist zugelassen. Wahrscheinlich wird die unterlegene KK diese Möglichkeit nutzen, dieses Urteil dürfte viele Versicherte betreffen.

 

 

LSG Berlin-Brandenburg (4. Senat), Beschluss vom 07.04.2022 – L 4 KR 40/22 B ER: Minderjährige behinderte Leistungsempfänger von Eingliederungshilfe haben Anspruch auf Leistungen zur Beschaffung eines Kfz.

Das LSG Berlin-Brandenburg hat in einem Eilverfahren ausdrücklich bestätigt, daß diese Regelung auch für minderjährige Behinderte gilt, deren Erziehungsberechtigte ein Kfz anschaffen wollen. Nach der neuen Vorschrift "Leistungen zur Mobilität" in § 83 SGB IX ist ausdrücklich vorgesehen, daß minderjährige Leistungsempfänger Anspruch auf erforderlichen behinderungsbedingten Mehraufwand haben. Die betreffende Behörde das so interpretiert, daß nur ein Anspruch auf Mehrbedarf bestünde. Wenn kein Kfz vorhanden sei, griffe die Regelung ins Leere. Das LSG urteilte, daß diese Interpretation eine Schlechterstellung minderjähriger gegenüber volljähriger Menschen mit Behinderung sei und erteilten der Ansicht der Behörde eine Absage. "Zu den Leistungen zur Mobilität gehören nach § 83 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB IX auch Leistungen zur Beschaffung eines KFZ. Diese Leistung steht zur Überzeugung des Senats grundsätzlich auch minderjährigen Leistungsberechtigten wie der Antragstellerin zur Verfügung".

 

LSG Hamburg, Urt. v. 14.05.2019 – L 3 SB 22/17, SG Gießen, Urt. v. 30.01.2020 – L 16 SB 110/17; SG Münster, Urt. v. 17.11.221 – S 25 SB 314/20; alle zum Nachteilsausgleich "aG" bei Autismus

 Alle drei Gerichte beschäftigten sich mit den Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" – außergewöhnliche Gehbehinderung bei Autismus. Das Merkzeichen aG steht Personen zu, die dauerhaft mobilitätsbezogen teilhabebeeinträchtigt sind. "Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können", soweit der Gesetzestext des § 229 SGB IX. Die Richter kamen jedoch zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen:

Im ersten Fall ging es um einen 20jährigen Kläger (GdB 100, Merkzeichen B, G, H und RF), der u. a. geltend machte, er würde im Straßenverkehr völlig unberechenbar reagieren: Werfe sich auf den Fußweg, habe sehr starken Bewegungsdrang, Stimmungsschwankungen, werde aggressiv, betrete unvermittelt die Fahrbahn. Zudem habe er Weglauftendenzen und gefährde sich selbst. Nach Ansicht des LSG sei er zwar aufgrund seiner "Ausbrüche" nicht in der Lage, zielgerichtet allein einen Weg zurückzulegen, aber diese Einschränkungen sei nicht dauerhaft. Gefährdungen, die bei hirnorganischen Anfallsleiden vorkämen, seien dafür nicht zu berücksichtigen.

Ganz anders das SG Gießen in einem m. E. durchaus vergleichbaren Fall: Der 7jährige Kläger (GdB 100, G, B und H) war zwar physisch imstande, zu gehen, konnte sich aber nicht orientieren und reagierte im Übrigen so wie der og. Kläger: Unberechenbar, aggressiv, eigen- und fremdgefährdend im Straßenverkehr. Er mußte daher ständig im Reha-Buggy transportiert werden.

Das Merkmal der "Dauerhaftigkeit" kam auch einer Klägerin vor dem SG Münster zugute: Die 20jährige (GdB 100) verweigerte mehrmals täglich die Fortbewegung, warf sich auf den Boden – auch im Straßenverkehr und konnte nur selten zum Weitergehen motiviert werden. Auch sie wurde daher im Rollstuhl transportiert.

Im direkten Vergleich zeigen die Urteile, daß jeder Fall für sich betrachtet werden muß: Es kam immer darauf an, wie die jeweilige Begleitperson das Verhalten des Betroffenen handhabte: So war der Kläger vor dem LSG wohl nur deshalb im Nachteil, weil er nicht im Rollstuhl transportiert wurde. Die Vorteile des "aG" (insbes. Parken auf Behindertenparkplätzen) kämen damit in erster Linie der Begleitperson zugute.

 

LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 17.08.2022 – L 3 KR 344/21: Kein Anspruch auf OP zur Brustvergrößerung aus ästhetischen Gründen zu Lasten der Krankenkasse

Eine Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Brustvergrößerung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, weil sie sich subjektiv unästhetisch und entstellt fühlt.

Die Klägerin (52) hatte sich im Alter von 26 Jahren die Brüste vergrößern lassen. Zu diesem Zweck wurden Kochsalzimplantate implantiert. Als eines der Implantate leckte, suchte sie einen Frauenarzt auf. Anläßlich der Untersuchung diagnostizierte er Brustkrebs. Beide Implantate mußten im Zuge der Krebstherapie entfernt werden.

Zwei Jahre später beantragte sie bei der Krankenkasse erneut eine Brustvergrößerung und begründete dies mit der psychischen Belastung durch die (jetzt) ungleich großen Brüste.

Dieses entspräche nicht der Ästhetik des weiblichen Körpers. Das Problem könne mit einem gezielten Eingriff gelöst werden; eine jahrelange Therapie, um dieses psychisch zu verarbeiten, ließe sich so vermeiden. Die weibliche Brust als erotischer Reiz hätte eine tragende Rolle im Rahmen der Sexualität.

Die Kasse lehnte den Antrag ab. Denn es gehe bei den Implantaten um keine krebsbedingte Re-konstruktion. Bei der Operation sei es zu keiner Entfernung der Brustdrüsen gekommen. Es liege auch keine äußerliche Entstellung vor, denn die Brüste seien zwar eher klein, aber zum Körperbild noch passend. Die angebotene Alternative eines Liftings habe die Frau abgelehnt.

Dieser Ansicht schloßen sich das SG Hildesheim und in zweiter Instanz das LSG Niedersachsen-Bremen an (Entscheidung vom 17.08.2022, L 3 KR 344/21).

Ein Krankheit läge erst dann vor, wenn die Funktionsbeeinträchtigung eines solches Ausmaß erreicht hat, daß eine ärztliche Behandlung erforderlich wird.

Auf das subjektive Empfinden des Betroffenen käme es nicht an. "Eine psychische Belastung der Klägerin aufgrund ihres Erscheinungsbildes rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung.", so die Richter.

Eine Entstellung liege schon gar nicht vor. Eine solche Auffälligkeit müßte evident- also für jeden sofort ersichtlich -  abstoßend wirken

Auf der einen Seite ist das zu begrüßen, denn der Körperkult treibt angesichts der sozialen Medien immer weitere Blüten. Laut Aussage des Sprechers des LSG waren Streitigkeiten um Lifestyle-OPs eher Ausnahmefälle, mittlerweile gehören sie zum Alltagsgeschäft. Andererseits ist zu befürchten, daß sich jetzt der Ton in den Auseinandersetzungen um z. B. notwendige Brustkorrekturen bei Frauen (Stichwort Brustverkleinerungen) verschärfen wird.

 

LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 13.09.2022, L 16 KR 421/21: Hilfsmittel sind zum Behinderungsausgleich zu bewilligen, weil sie der Selbstbestimmung dienen.
Einmal mehr mußte ein LSG einer Krankenkasse verdeutlichen, daß Hilfsmittel nicht nur der Krankenbehandlung, sondern auch dem Behinderungsausgleich dienen und daß die Grundbedürfnisse nicht zu eng ausgelegt werden dürfen.
Der querschnittsgelähmte Kläger war bereits mit einem Rollstuhl versorgt worden und hatte bei der beklagten KK ein Rollstuhlzuggerät beantragt. Er war zunächst im Widerspruchsverfahren und in erster Instanz unterlegen. Das LSG sah die Sache jedoch anders und berief sich hierzu auf das Recht auf persönliche Mobilität nach der UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK). Das geänderte Verständnis von Behinderung habe einen Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung auch i. V. m. Art 3 GG mit sich gebracht: Menschen mit Behinderung soll ermöglicht werden, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Der Anspruch ist begrenzt auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung. Einen Anspruch auf Optimalversorgung gibt es deshalb nicht, aber die Minimalversorgung soll es auch nicht sein. Entscheidend ist der Umfang der zu erreichenden Gebrauchsvorteile. Die von jeher praktizierte Unterscheidung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Behinderungsausgleich tritt dahinter zurück. Das LSG betont ausdrücklich: "Dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen ist volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet, daß die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert".

Die Auseinandersetzungen um den Zweck der Hilfsmittelversorgung halten seit in Kraft treten des Bundesteilhabegesetzes 2020 unvermindert an. Ein Umdenken auf breiter Front hat noch nicht stattgefunden. Bis zur gleichberechtigten Teilhabe ist es ein weiter Weg. Umso wichtiger ist es, am Ball zu bleiben und sich nicht entmutigen zu lassen!

 

Bundessozialgericht, Urt. v. 27.10.2022, B 9 SB 1/22 R: Begutachtung beim medizinischen Sachverständigen in Anwesenheit einer Vertrauensperson
Gerichte und Behörden erwarten von KlägerInnen, daß sie bei der gerichtlichen Aufklärung mitwirken. Was aber aus deren Sicht ganz "normal" und üblich ist, erscheint vielen KlägerInnen als eine Herausforderung, wenn nicht gar unüberwindliche Hürde. "Ich soll zu einem Gutachter? Was muß ich da sagen? Was will der von mir hören?" Eine häufig vorkommende Sorge, die nicht für alle Beteiligten (Richter, Anwälte, Mediziner) nachvollziehbar ist. Geht der Betreffende nicht zum Termin, wirft man ihm häufig Beweisvereitelung oder Vereitelung der Aufklärung vor und weist die Klage ab. In den meisten Fällen ist die Gesundheit des Klägers nun einmal entscheidungserheblich, z. B. bei Erwerbsminderung, Arbeitsunfähigkeit oder Schwerbehinderung.
Das Bundessozialgericht hat jetzt die Besorgnis der KlägerInnen aufgegriffen und der Erwartungshaltung der Juristen einen Dämpfer erteilt. Im Streitfall wehrte sich der Kläger gegen die Herabsetzung des bei ihm ursprünglich festgestellten Grades der Behinderung (GdB) durch das Versor-gungsamt von 50 auf 20 wegen abgelaufener Heilungsbewährung. Es ging um orthopädische Leiden (HWS, LWS), Arthrose, Schwerhörigkeit und Sehbehinderung. Das zuständige SG bestellte einen Orthopäden zum Gutachter. Der ließ sich jedoch entpflichten, weil der Kläger zum Termin seine Tochter mitgebracht und auf ihrer Anwesenheit während der gesamten Untersuchung bestanden hatte: Die Anwesenheit Dritter stoße ei ihm prinzipiell auf erhebliche Bedenken, da die Erhebung objektiver Befunde erschwert werde. Bei dem daraufhin bestellten Sachverständigen erschien der Mann in Begleitung seines Sohns, woraufhin auch dieser Experte die Arbeit verweigerte: Durch die Anwesenheit einer Begleitperson entstehe eine "Zeugenungleichheit". Das SG wies die Klage kurzerhand ab: Die Heilungsbewährung sei eingetreten. Das LSG machte in 2. Instanz ebenfalls kurzen Prozeß: Der Behinderte habe eine weitere Aufklärung vereitelt und dadurch die Beweislast umgedreht. Das BSG sah es anders: Der zu Begutachtende sei grundsätzlich frei darin, eine Vertrauensperson zu seiner Untersuchung mitzunehmen. Aber: So einfach ist es dann doch nicht, denn ein Gericht könne jedoch deren Ausschluss anordnen, wenn ihre Anwesenheit im Einzelfall "eine geordnete, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert". Differenzierungen zum Beispiel nach der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson oder dem medizinischen Fachgebiet seien dabei in Betracht zu ziehen. Das BSG hat wahrscheinlich in erster Linie auf psychiatrische Gutachten abgezielt. Bei psychiatrischen Gutachten kommt es gerade auf die völlig unbeeinflußte Persönlichkeit des Klägers/in an, während bei anderen Gutachten Anwesende nichts an einer Arthrose, Hörminderung oder einem Diabetes ändern.

 

BSG, Urteile vom 09.03.2023, Az.: B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R: Das Merkzeichen "aG" (=außergewöhnliche Gehbehinderung) steht Schwerbehinderten Menschen unabhängig von der räumlichen Umgebung zu.
Der Nachteilsausgleich "aG" (=außergewöhnliche Gehbehinderung) ist ein Thema, das die Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht andauernd beschäftigt. Immer wieder geht es um die Fähigkeit, sich  dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges zu bewegen. Hier wird seit Jahren verbissen gestritten. Man sollte meinen, daß die Voraussetzungen bis ins kleinste Detail geklärt sind, trotzdem mußte das BSG erst vor wenigen Tagen wieder einmal über die Voraussetzungen entscheiden. Interessant in diesen beiden Fällen war, daß hier ausdrücklich auf die Teilhabebeeinträchtigung abgestellt wurde.
Im ersten Fall litt der Kläger unter anderem an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Zwar konnte er auf einem ebenen Krankenhausflur gehen, aber im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden We-gen und Bodenunebenheiten war das ohne Selbstverletzungsgefahr nicht mehr möglich. Das Bundessozial-gericht hat in diesem Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen.
Im zweiten Fall betonten die Richter den Aspekt der Teilhabe noch deutlicher: Der Kläger konnte aufgrund einer globalen Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zusteht. Der Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts ziele auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gemeinschaft ab. Das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbe-kannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sei davon umfasst. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung steht der Zuerken-nung des Merkzeichens aG nicht entgegen.

 

SG Koblenz, Urteil vom 24.04.2023 – S 11 KR 418/21: Die Krankenkasse muß Fahrtkosten für eine stufenweise Rehabilitation nicht zahlen.

Fahrtkosten im Zusammenhang mit einer stufenweisen Wiedereingliederung können dem SG Koblenz zufolge nicht nach § 60 SGB V übernommen werden: Diese Reisekosten stünden nicht im Zusammenhang mit einer medizinischen Rehabilitation. Die stufenweise Wiedereingliederung sei eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und (anfänglich noch arbeitsunfähigem) Arbeitnehmer. Im fünften Abschnitt des SGB V seien alle Leistungen aufgezählt, die die KK für ihre Versicherten erbringen müsse. Die stufenweise Wiedereingliederung sei dort nicht erwähnt. Die stufenweise Wiedereingliederung sei arbeitsrechtlich "ein Rehabilitationsmodell mit therapeutischen Zielen“, dessen Grundlage ein Rechtsverhältnis sui generis nach § 311 BGB (das Wiedereingliederungsverhältnis) sei. Auch eine Kostenerstattung gem. § 73 SGB IX käme nicht in Betracht. Das SG Koblenz setzt sich eingehend auseinander mit gegenteiliger Rechtsprechung, Z. B. SG Berlin, SG Dresden oder LSG Mecklenburg-Vorpommern und kommt zu dem Schluß, daß die stufenweise Widereingliederung, anders als die Belastungserprobung, weder unter ärztlicher Aufsicht noch flankiert durch ärztliche Behandlungsmaßnahmen am Arbeitsplatz stattfände.

 

LSG Hessen, Urteil vom 05.07.2023, L 2 R 61/21: "Kein nahtloser Übergang erforderlich für Übergangsgeld bei Reha-Maßnahme"
Versicherte haben während einer stationären Rehabilitation Anspruch auf Übergangsgeld von der Deutschen Rentenversicherung, wenn sie "unmittelbar vor Beginn" der medizinischen Leistung Arbeitslosengeld oder eine vergleichbare Leistung bezogen haben. Das Hessische Landessozialgericht hat entschieden, dass ein Zeitraum von neun Tagen zwischen dem Ende des Leistungsbezugs und der Bewilligung der Reha-Maßnahme immer noch als "unmittelbar" gilt.
Eine 54-jährige Klägerin bezog bis Mitte April 2015 Arbeitslosengeld. Neun Tage später wurde ihr von der Rentenversicherung eine medizinische Rehabilitation bewilligt, die weitere fünf Wochen später begann.; insgesamt lagen also mehr als sechs Wochen zwischen dem Ende der Sozialleistung Arbeitslosengeld und der Sozialleistung Übergangsgeld.  Die Rentenversicherung lehnte die Gewährung von Übergangsgeld während der Reha-Maßnahme ab, da die Klägerin nicht unmittelbar vor Beginn der Maßnahme Arbeitslosengeld oder eine vergleichbare Sozialleistung bezogen hatte. Die Klägerin argumentierte, dass sie keinen Einfluss auf den Beginn der Reha-Maßnahme gehabt habe.
Das Hessische Landessozialgericht hat nun entschieden, dass die Rentenversicherung Übergangsgeld zahlen muss. Der Begriff "unmittelbar vor Beginn" erfordert keinen nahtlosen Übergang. Bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs müssen die Systematik sowie der Sinn und Zweck der Gesamtregelung berücksichtigt werden. Das Übergangsgeld soll während einer Reha-Maßnahme die Entgelt- und Einkommensverhältnisse aufrechterhalten. Ein zeitlicher Abstand von vier Wochen zwischen dem Ende des vorherigen Leistungsbezugs und dem Beginn der Reha-Maßnahme ist in der Regel unbedeutend.
In diesem Fall kommt es nicht auf den Beginn der Reha-Maßnahme an. Entscheidend ist vielmehr, wann die Rentenversicherung die Maßnahme bewilligt hat. Das LSG folgte der Argumentation der Klägerin: Die Versicherten haben in der Regel keinen Einfluss darauf, wann sie die Reha-Maßnahme antreten können. Es hätte in der Verantwortung der Rentenversicherung gelegen, der Frau unverzüglich nach der Bewilligung einen Platz in einer Reha-Klinik zu besorgen.

 

LSG Hessen, Urt. v. 14.08.2023, L 8 KR 174/20: In der Krankenversicherung ist bei der Höhe der Beiträge freiwillig versicherter Mitglieder auch das Einkommen des Ehegatten zu berücksichtigen.
Die Beiträge freiwillig versicherter Mitglieder sind ständig Thema in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung. Ob nun die Frist zur Vorlage der Einkommensnachweise, der korrekte Prozentsatz je nach Versichertem oder die Frage, welche Einnahmen konkret beitragspflichtig sind, - scheinbar ist alles schon von der Rechtsprechung ausgeurteilt worden. Tatsächlich gibt es immer wieder Konstellationen, die noch nie entschieden wurden.
Mit einer solchen Fragestellung befasste sich im August das LSG Hessen: Ausgangspunkt war die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mitgliedes.
Die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder der GKV ist gemäß § 240 SGB V einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) geregelt. Die Beitragsbemessung soll die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigen.

Der Kläger hatte argumentiert, dass die Berücksichtigung des Ehegatteneinkommens bei der Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder der GKV nach der Einführung des § 240 Abs. 4 Satz 4 SGB V im Jahr 2007 auf hauptberuflich selbständige Mitglieder beschränkt sei.
Gesetzgeberische Intention
Das LSG interpretierte die Intention des Gesetzgebers anders: Die Einführung des § 240 Abs. 4 Satz 4 SGB V diente dem Ziel, freiwillig versicherte Selbstständige, die nachweislich weniger als nach der Beitragsbemessungsgrenze verdienten, zu entlasten. Die Einbeziehung des Ehegatteneinkommens soll in jedem Fall erfolgen, um sicherzustellen, dass die Entlastung tatsächlich nur bedürftige Selbständige profitiert.
Verfassungsrechtliche Erwägungen
Der Grundsatz der Maßgeblichkeit individueller wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit spricht für die Berücksichtigung des Ehegatteneinkommens bei der Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder der GKV.
Gesetzgebungsgeschichte
Der Gesetzgeber habe die Berücksichtigung des Ehegatteneinkommens bei der Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder der GKV nicht auf hauptberuflich selbständige Mitglieder beschränken wollen. Genau dieses war ursprgl. in § 240 Abs. 4 Sätze 2 bis 6 SGB V bestimmt gewesen. Diese Regelung wurde 2019 gestrichen.
Fazit
Die Berücksichtigung des Ehegatteneinkommens bei der Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder der GKV ist auch nach der Einführung des § 240 Abs. 4 Satz 4 SGB V im Jahr 2007 zulässig.

 

LSG Hessen, Urt. vom 18.10.2023, L 4 SO 180/21: Behinderte Kläger müssen sich an formelle Verfahrensvorschriften halten
In einem aktuellen Urteil des Landessozialgerichts Hessen vom 14.08.2023 wurde entschieden, dass auch behinderte Kläger an die formellen Verfahrensvorschriften des Sozialgesetzbuches (SGB X) und des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden sind.
Im konkreten Fall hatte ein Kläger mit einer Schwerbehinderung versucht, einen Widerspruch gegen einen Bescheid der Rentenversicherung formlos per E-Mail einzulegen. Die Rentenversicherung hatte den Widerspruch jedoch zurückgewiesen, da er nicht den Formvorschriften des § 84 SGG entsprach.
Der Kläger hatte argumentiert, dass die E-Mail-Einlegung für ihn als behinderten Menschen die einzige Möglichkeit sei, einen Widerspruch formgerecht einzulegen. Er sei nicht in der Lage, einen qualifizierten elektronischen Signaturschlüssel (QES) zu beantragen oder zu verwenden.
Das LSG Hessen ist hat dieser Argumentation jedoch nicht gefolgt. Das Gericht stellte fest, dass dem Kläger die Möglichkeit der formgerechten Widerspruchseinlegung per Faxschreiben offenstehe. Dies sei für ihn als behinderten Menschen ebenfalls zumutbar. Es verwies in seiner Begründung auf die grundgesetzliche Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen. Diese Schutzpflicht gebiete es zwar, behinderten Menschen den Zugang zu Rechtsschutz zu erleichtern. Allerdings sei diese Schutzpflicht nicht so weit gefasst, dass sie eine Aushöhlung der formellen Verfahrensvor-schriften rechtfertige.
Das Urteil ist ein wichtiges Signal für die Gleichberechtigung von behinderten Menschen im Rechtssystem. Es zeigt, dass auch behinderte Menschen an die formellen Verfahrensvorschriften gebunden sind. Allerdings gibt das Urteil auch zu erkennen, dass der Staat verpflichtet ist, behinderten Menschen den Zugang zu Rechtsschutz zu erleichtern.

 

LSG Baden-Württemberg (10. Senat), Urteil vom 14.12.2023 – L 10 R 2331/23

In rechtlichen Streitigkeiten, insbesondere in Fällen, die die Bewertung von medizinischen Gutachten erfordern, spielen Fragen zur Verwertbarkeit eine entscheidende Rolle. Ein aktuelles Beispiel verdeutlicht ein Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 14.12.2023 (L 10 R 2331/23): Im entschiedenen Fall ging es um Rente wegen Erwerbsminderung. Ein Gutachten wurde dem Gericht erst am 15.03.2023 vorgelegt, die Begutachtung hatte aber bereits am 21.07.2022 stattgefunden.

Das Gutachten wurde Gegenstand intensiver Diskussionen vor Gericht. Eine zentrale Frage war die Verwertbarkeit dieses Gutachtens als Beweismittel. Der Grund für die Kontroverse lag im zeitlichen Abstand zwischen der Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen und der Vorlage des schriftlichen Gutachtens. Fast acht Monate vergingen zwischen diesen beiden Ereignissen, was die Gegenseite als unzulässig lang ansah.

Wie wirkte sich der Zeitablauf auf das Erinnerungsvermögen des Sachverständigen aus?. Bei einem Richter, der den Tatbestand und die Entscheidungsgründe nicht innerhalb einer bestimmten Frist niederschreibt, geht der Gesetzgeber in der Prozeßordnung davon aus, dass seine Erinnerung an die Urteilsverhandlung mit der Zeit verblassen.

Das Gericht steht immer vor der Herausforderung, eine einheitliche Bewertung medizinischer Gutachten sicherzustellen, unabhängig vom Fachgebiet. Ob es sich um psychiatrische, psychosomatische oder somatische Gutachten handelt, die sachverständige Einschätzung und der persönliche Eindruck des Gutachters spielen eine entscheidende Rolle.

Die Verantwortung liegt beim Gericht, sicherzustellen, dass Gutachten fristgerecht vorgelegt werden. Versäumnisse seitens des Sachverständigen führen jedoch nicht automatisch dazu, dass ein unverwertbares Gutachten dennoch verwendet werden kann.

Die Konsequenzen der Unverwertbarkeit sind weitreichend. Ein nicht verwertbares Gutachten kann nicht als Beweismittel mit vollem Beweiswert genutzt werden. Dies stellt eine erhebliche Einschränkung dar, insbesondere wenn es um die Entscheidung über den Eintritt einer Erwerbsminderung geht.

Trotz dieser Hürden eröffnet das Gericht Möglichkeiten zur teilweisen Nutzung der dokumentierten Befunde und anamnestischen Angaben, insbesondere wenn diese als "unwiederholbar" gelten. Diese Praxis wird im Rahmen einer Interessenabwägung zugunsten der klagenden Partei angewandt.

Insgesamt zeigt dieser Fall die komplexen Herausforderungen bei der Verwertbarkeit von Gutachten in rechtlichen Auseinandersetzungen auf und verdeutlicht die Notwendigkeit einer sorgfältigen Prüfung und Bewertung dieser Beweismittel.